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Der Kulturverein fördert Kunstobjekte im öffentlichen Raum.

Fotos: Peter Nonnenmacher

Zugeneigt

Die Drei von der Kirchenmauer

Zugeneigt heißt die Skulptur von Mathias Nikolaus: ein Figurenensemble aus Mann und Frau mit Kind. Jetzt steht das Kunstwerk an der Südseite der St. Georgs-Kirche auf dem Alten Kirchhof. Es ist eine Stiftung von Ursula und Dr. Heinz-Ulrich Werther an den Kulturverein Wachenheim.

Laut Duden bedeutet Zuneigung ein „deutlich empfundenes Gefühl, jemanden oder etwas zu mögen, gernzuhaben; Sympathie.“ Abneigung ist das Gegenteil von Zuneigung. Mit Liebe hingegen ist etwas anderes gemeint. Sie ist laut Duden „eine auf starke körperliche, geistige und seelische Anziehung beruhende Bindung an einen bestimmten Menschen, verbunden mit dem Wunsch nach Zusammensein und Hingabe“.
Sowohl der Wunsch nach Zuneigung als auch nach Liebe sind elementare Bedürfnisse von Menschen, um sich im Leben und in der Welt aufgehoben und glücklich zu fühlen.

Nachdem das Werk das Atelier des Künstlers verlassen hat, macht es sich unabhängig vom Künstler und ist jetzt den Interpretationsversuchen und Gedanken der Betrachterin ausgeliefert:

Das Material

ist Teil der Botschaft. Ursprungsmaterial der Skulptur ist Eisen, ein essenzieller Bestandteil des Erdkerns und auch des Blutes. Man kann bzw. soll es auch essen oder trinken - in der passenden Darreichungsform natürlich.
Die Skulptur zeigt sich äußerlich nicht in poliertem, kühl glänzendem Edelstahl, sondern sie ist von einer Rostschicht überzogen. Während Eisenkörper im Laufe der Zeit durch den Einfluss von Wasser und Sauerstoff oxidieren - und zwar vollständig -, ist dieses Kunstwerk aus Cortenstahl unempfindlicher gegenüber Witterungseinflüssen. Die Rostschicht schützt sogar das Kunstwerk vor weiterer Korrosion und so vor seiner vollständigen Selbstzerstörung. Rost täuscht ein fortgeschrittenes Alter vor, er ist rau und erdfarben, lebendig, denn die Farben verändern sich im Laufe der Zeit; sie werden intensiver.

„Alles bewegt sich fort und nichts bleibt“ (Platon in Anlehnung an Heraklit). Das ist wohl wahr, doch gilt für dieses Kunstwerk, was seine Dauerhaftigkeit anbelangt, der Aphorismus, der dem griechischen Arzt Hippokrates zugeschrieben wird: „Das Leben ist kurz, die Kunst ist lang“.

Die Wahl des Materials und die Gestaltung des Kunstobjektes laden ein, sich Gedanken über die Gegensatzpaare Ewigkeit und Vergänglichkeit, Wesen und Erscheinung, Nähe und Distanz zu machen.

Wie zeigt sich das Innere im Außen?


Sowohl Material als auch die Form des Figurenensembles sind puristisch, figürlich, aber reduziert auf das Wesentliche, wie ein Scherenschnitt; drei Menschen wie ausgestanzt aus einem größeren Stück. „Es geht also um das wahre Wesen, das, was in diesem Fall den Menschen ausmacht“; so formuliert es der Künstler selbst als Kommentar zu seinen Werken. „Erkenne Dich selbst! / Erkenne, was Du bist“, ist die viel zitierte Inschrift am Apollontempel von Delphi, keine leichte Aufgabe aufgrund der vielfältigen Einflüsse, die uns prägen. Zum wahren Wesen des Menschen vorzudringen, wäre eine noch größere Herausforderung.
Die Figuren weisen auch auf elementare Grunderfahrungen von Menschen in Beziehungen hin. Nähe und Distanz sind hier im Spiel. Sich zugeneigt sein, ist sowohl eine körperliche als auch eine geistig- seelische Verbindung. Frau und Kind bilden eine eng verbundene Einheit, da sie symbiotisch zusammengewachsen scheinen, während der Mann - freiwillig oder gezwungenermaßen - auf Abstand ist. Die Mutter hat mit dem Kind einen festen und geerdeten Stand. Aufrecht und mit geradem Rücken stehen sie da. Von der Körperhaltung her neigt sich der Mann sowohl den beiden zu als auch ab. Sein Körper bildet annähernd eine S-Form. Er hat keinen guten Stand, so scheint es; er muss sich etwas verbiegen. Ganz nahe kommt er ihnen nicht. Drückt sich so der Unterschied zwischen Zuneigung und Liebe aus?

Widersprüche

offen zu legen, Fragen zu stellen, statt Antworten zu geben, sind Anliegen von Kunst. Wie nahe sind sich Mann/Vater und Frau/Mutter mit Kind? Sind sie sich überhaupt zugeneigt? Ist der Mann der Vater, die Frau die Mutter? Ist die Zuneigung einseitig oder gegenseitig? Haben sie eine unsichere Beziehung, ein Problem mit Nähe und Distanz? Was verhindert Nähe zwischen dem Mann und der Frau mit dem Kind? Befinden sie sich in einem Stadium des Annäherns oder des Trennens? Kann aus Zuneigung Liebe werden? Möchte sie, dass er ihr näher kommt oder hält sie ihn auf Distanz? Ist die Nähe zwischen Mutter und Kind mehr als Zuneigung, Liebe? Will sie ihr Kind für sich alleine haben? Ist die körperliche Nähe zwischen Mutter und Kind nicht zu einengend für das Kind? Schließt die Mutter den Vater von der Beziehung aus? Kann sie ihr Kind auch loslassen, wenn es nötig ist? Schafft Nähe nicht manchmal auch zu viel Abhängigkeit? Ermöglicht Distanz eine erweiterte und deutlichere Sicht auf die Welt und den Menschen? Ist Zuneigung nicht viel verlässlicher als Liebe?

Fragen, nichts als Fragen: Das ist der Reiz des Kunstwerks – es fordert heraus, es inspiriert weiterzudenken.

Die Skulptur steht an der Kirchenmauer auf dem Alten Kirchhof

und ist damit mit der Kirche als Gebäude und mit der Kirche als Gemeinschaft verbunden. In Religion und Kirche geht es immer wieder auch um Suchende, Zweifelnde und Findende, um Liebe und Mitmenschlichkeit, um Nähe und Distanz, um Vertrauen zu sich selbst und zu anderen. Es geht um Menschen, deren Beziehung zu sich selbst, zu ihren Mitmenschen und damit auch zu Gott gestört oder gefährdet ist, um die „Sehnsucht nach dem ganz Anderen“ (Max Horkheimer), um „das, was mich unbedingt angeht“ (Paul Tillich). Biblische Geschichten handeln oft von Menschheitsthemen, von Eifersucht unter Geschwistern, mangelnder Anerkennung und von scheiternden und von gelingenden Beziehungen. Es geht darum, wie Menschen ein sinnerfülltes Leben führen können. Sie handeln von Mitmenschlichkeit, von der Zuneigung und Liebe Jesu zu den Menschen, seiner Forderung nach Gerechtigkeit und Frieden unter den Menschen und in der Welt. Das Figurenensemble wirft Schatten, es sollte aber kein Schattendasein führen. Corona macht uns zu flüchtigen Passanten. Das wird sich hoffentlich bald wieder ändern. Der Alte Kirchhof mit dem neuen Kunstwerk sollte nicht nur ein Durchgang sein, sondern sollte zu einem offenen Raum, um innezuhalten, zu einem lebendigen Ort des Nachdenkens, der Begegnung und des Austausches werden.

Mathias Nikolaus

wurde 1962 in Landau geboren. Er machte eine Bildhauerlehre in Kaiserlautern; 1988 gründete er seine eigene Werkstatt. Zehn Jahre war er Schüler der Bildhauerklasse von Professor Duttenhoefer, der die Pan-Plastik, vom Kulturverein der Stadt Wachenheim gestiftet, schuf. Mit seinen Ausstellungen war und ist Mathias Nikolaus in ganz Deutschland und in Frankreich unterwegs. Viele Kunstobjekte von ihm finden sich im öffentlichen Raum. Für die Ev. Kirche Maxdorf schuf er die Großplastik Jesus unter Menschen. Im Oktober 2019 stellte er eine Auswahl seiner Werke, u. a. auch die Skulptur Zugeneigt, im Rahmen der Kunstausstellung des Kulturvereins in der Ludwigskapelle mit dem Titel Homo Essential der Öffentlichkeit vor.

Die Einweihung

fand im Rahmen einer feierlichen Veranstaltung zum 40jährigen Jubiläum des Kulturvereins am 05. Juli 2020 im Hof der Sektkellerei Schloss Wachenheim statt. Enthüllt wurde das Kunstwerk an Ort und Stelle.

Wir danken

den Stiftern, Ursula und Dr. Hans-Ulrich Werther, die durch dieses große und uns alle bereichernde Geschenk ihre Zuneigung zum Kulturverein und zu der Stadt Wachenheim zum Ausdruck bringen. Dr. Heinz Ulrich Werther war von 2002 und 2009 Vorsitzender des Kulturvereins. Verbunden mit dem Kunstwerk sind auch die Drei K: Kulturverein - Kommune – Kirche. Das Figurenensemble Zugeneigt ist eine Schenkung an den Kulturverein Wachenheim e. V. Der Verein hat die Initiative ergriffen, dieses Objekt an diesem Ort als Kunst im öffentlichen Raum für Passanten und Verweilende zu errichten. Die Stadt Wachenheim hat sich für ein Kunstwerk an dieser Stelle stark gemacht und dann die Vorarbeiten und seine Aufstellung in Absprache mit der Protestantischen Kirchengemeinde übernommen.

Magret Gerdes-Pfeiffer